Regelkunde

Preisfrage: Aus welchem Jahr stammen folgende Vorgaben zum Schutz der Bevölkerung vor unzumutbarem Fluglärm am innerstädtisch gelegenen Verkehrsflughafen in Hamburg-Fuhlsbüttel?

  • Vermeidung besonders hoher Spitzenbelastungen durch zweckmäßige Flugplangestaltung
  • Festlegung bevorzugter Start- und Landebahnen
  • Erhöhung des Abflug- bzw. Einflugwinkels
  • Heraufsetzung der Mindestflughöhen
  • Beschränkungen des Flughafens für bestimmte, besonders laute Flugzeugtypen

A)  2013        B)  1971        C)  1959

Die Antwort lässt insbesondere die Betroffenen bodenlos erzürnt zurück: Bereits vor mehr als einem halben Jahrhundert war den Verantwortlichen in Politik und Verwaltung klar, dass der Betrieb eines Flughafens inmitten eines dicht besiedelten Wohnumfeldes die umfassende Rücksichtnahme auf die vom Fluglärm und -dreck betroffenen Bürgerinnen und Bürger erfordert. Bis heute folgten jedoch keinerlei einschneidende Schritte der aktiven Vermeidung und Verminderung sowie Begrenzung der Belastungen, sondern lediglich „Ablasshandel“ in Form von Zuschüssen zu passiven Lärmschutzmaßnahmen. Letztendlich wird hierdurch nur die flugbetriebsbedingte Belastung legalisiert, mit der Negativfolge, dass die Bewohner (w/m) aus den Freiräumen in die (leidlich) geschützten Häuser gezwungen werden. So sieht technischer Umweltschutz auf dem inhaltlichen Niveau der 1970er bis 1990er Jahre aus! Vorsorgender (integrierter) Umweltschutz geht anders.

Seit der Ausstellung der Betriebsgenehmigung im Jahr 1967 sind bei nachfolgenden Aus- und Neubauvorhaben der Flughafeninfra- und -suprastruktur jegliche Interessensabwägungen vollumfänglich gegen die Belange der Bewohner (w/m) des Flughafennahbereiches sowie derjenigen der An- und Abflugschneisen gefallen. Das Mindeste, worauf sich die Betroffenen verlassen können müssen, ist, dass die (wenigen) seit Jahrzehnten nahezu unverändert bestehenden Schutzregeln konsequent eingehalten werden. Dass dies bei den (angeblich) „strengen“ Nachtflugbeschränkungen überhaupt nicht (mehr) zutrifft, ist hinlänglich bekannt – vgl. NoFlyHAM-Beiträge vom 21.01.17, 18.03.17, 16.04.17, 22.04.17, 01.05.1713.05.17 und 15.07.17. Nur die kommerzielle Betreibergesellschaft (Flughafen Hamburg GmbH) eiert in ihren Monatsberichten um diese Tatsache größtmöglich herum und erfindet immer neue Belastungsrelativierungen.

Abb.: Betriebsgenehmigung gemäß § 6 Luftverkehrsgesetz der Hamburger Flughafen-Verwaltung GmbH aus dem Jahr 1967. Inhaltlich schlichter geht es nimmer; lediglich die Länge, Breite, Ausrichtung und Tragfähigkeit der zwei Start- und Landebahnen sind verbindlich vorgegeben

Regel- / Ausnahmeverhältnis

In einer Gesellschaft können unterschiedliche Interessen aufeinander stoßen, die zu Konflikten führen. Als Prämisse bei der Konfliktbewältigung gilt: Das Wohl der Allgemeinheit steht über Partikularinteressen. Uneingeschränkte Freiheit für jeden Einzelnen kann es nicht geben – die persönliche Freiheit endet dort, wo das Recht eines anderen beginnt.

Um das gedeihliche Miteinander von Menschen mit unterschiedlichen Interessenslagen in einer Gesellschaft zu ermöglichen, bedarf es Regeln. Regeln formulieren Grenzen, die einen nachhaltigen Ausgleich zwischen divergierenden Bestrebungen herstellen. Regeln bilden allgemein anerkannte Grundsätze; sie sind daher wertbildend. Meist bedingt die Lebenswirklichkeit, dass sich nachvollziehbare Ausnahmen von bestehenden Regeln herausbilden. Als (gesetzliche) Regelung festgeschrieben bilden Regeln zusammen mit ihren Ausnahmen einen verbindlichen Rahmen für das gewogene Verhalten aller Mitglieder einer Gesellschaft, beispielsweise eines (Stadt-)Staates.

Bei der Justierung von Regel und Ausnahme kommt es auf das quantitative und qualitative Verhältnis zueinander an. Die juristische Methodenlehre beschreibt mit dem Grundsatz „singularia non sunt extendenda“ (lat.), dass Ausnahmeregelungen eng auszulegen sind. So ist sowohl dem Wortsinn und der systematischen Einordnung, als auch dem historischen Hintergrund und dem Zweck einer Regelung nach darauf zu achten, dass ein Sachverhalt genau die Voraussetzungen der Ausnahme erfüllt, um als solche behandelt zu werden. Der gesunde Menschenverstand ergänzt, dass Ausnahmen nach Art und Umfang deutlich geringer als der Regelfall ausfallen müssen, um Ausnahmen im eigentlichen Sinn zu bleiben – anderenfalls würden sie an die Stelle der Regel treten.

Bahnbenutzungsregeln

Die heutzutage bestehenden Vorgaben für die „Auswahl“ der zu nutzenden Start- und Landebahnen am „Helmut Schmidt“-Flughafen besagen Folgendes: (1) Für Starts ist die RWY 33 in nordwestlicher Richtung zu verwenden; (2) Starts in Richtung Südosten (RWY 15) sowie Landungen in umgekehrter Richtung (RWY 33) sind nur in Ausnahmefällen zulässig; (3) In der Zeit zwischen 22 Uhr und 7 Uhr ist für Landungen die RWY 15, d.h. die Landepiste aus nordwestlicher in südöstlicher Richtung zu benutzen. Seit fast einem halben Jahrhundert gelten diese Maßnahmen zur Reduzierung der Anzahl an Fluglärmbetroffenen fast unverändert (vgl. Teil 1 „Ein erhellender Blick zurück“). In den vergangenen Jahren (beginnend ab 2007, gesteigert ab 2010) häufen sich jedoch die Beschwerden darüber, dass insbesondere die dritte Regel zunehmend missachtet wird. Da dies von offizieller Seite (bisher) weitgehend negiert wird, besteht die Notwendigkeit, die Faktenlage zu klären.

Abb.: Luftbild des Pistenkreuzes am „Helmut Schmidt“-Flughafen mit Bahnbezeichnungen. Die Ausrichtung der beiden Start- und Landebahnen wurde Ende der 1940er Jahren vollzogen. Die Pistenkennzeichnung (Runway = RWY) erfolgt in Anlehnung an die Kompassgradzahl, d.h. Norden entspricht 0° bzw. 360°, Osten 90°, Süden 180° und Westen 270°. Starts auf der RWY 33 werden daher in nordwestlicher Richtung (330°) durchgeführt. Landungen auf der RWY 15 erfolgen auf derselben Piste in umgekehrter, südöstlicher Richtung (150°)

Zur eingehenden Betrachtung der jeweils für Starts und Landungen genutzten Bahnkonstellationen während der letzten und ersten Betriebsstunde eignet sich ein flugverkehrsreicher Monat ohne bau- oder wartungsbedingter Pistensperrung. In der nachfolgenden Tabelle ist, (exemplarisch) für den Mai 2017, für jeden Einzeltag – unterschieden zwischen den Zeiträumen von 22 Uhr bis 6 Uhr sowie 6 Uhr bis 7 Uhr – die Anzahl an Starts und Landungen je Bahnrichtung aufgelistet.

Abb.: Einhaltung der Bahnbenutzungsregeln; dargestellt am Beispiel des Monats Mai 2017 im Zeitraum von 22 Uhr bis 7 Uhr des Folgetages. Eine rote Feldunterlegung bedeutet einen aktiven Regelverstoß, eine gelbe Unterlegung eine passive Regeleinhaltung und eine grüne eine aktive Regeleinhaltung. Datengrundlage: DFLD e.V., DFS TraVis

Lesebeispiele:

In der Nacht vom 1. auf den 2. Mai 2017 sind zwischen 22 Uhr und 6 Uhr drei Starts über die nordöstliche Startbahn (RWY 05) erfolgt. Diese Flüge hätten gemäß Bahnbenutzungsregeln (grundsätzlich) über die nordwestliche Startbahn (RWY 33) geleitet werden müssen. Im ausgewählten Zeitraum fanden 19 Landungen im sogenannten „Einbahnbetrieb“ statt, die über die südwestlich-nordöstlich ausgerichtete Landebahn (RWY 05) geführt wurden. Dies bedeutet, dass die für diesen Zeitraum regelkonforme nordwestlich-südöstlich ausgerichtete Landebahn (RWY 15) nicht benutzt wurde. Dementsprechend wurden die erste und dritte Bahnbenutzungsregel nicht eingehalten, was eine rote Feldkennzeichnung zur Folge hat.

In der Morgenstunde des 2. Mai 2017 haben von 6 Uhr bis 7 Uhr keine Landungen stattgefunden. Die 20 Starts, die in dieser Stunde erfolgt sind, wurden – der Regel entsprechend – über die nordwestliche Startbahn (RWY 33) geleitet. Die Bahnbenutzungsregeln wurden – aufgrund des lediglich in eine Richtung stattfindenden Flugbetriebs – indirekt (d.h. passiv) eingehalten; dies ergibt eine gelbe Kennzeichnung. Zusammen betrachtet ist für den Zeitraum 1. Mai von 22 Uhr bis 7 Uhr des Folgetages festzuhalten, dass die betreffenden Bahnbenutzungsregeln nicht beachtet wurden.

Über den gesamten Monat gesehen mag es (tragende?) Gründe für einzelne Verstöße gegen die geltenden Regeln geben. Begründete Ausnahmen sind beispielsweise die Luftverkehrssicherheit oder extreme Wetterlagen. Eine Einhaltung der zusammenhängenden Regelung (s.o.) wäre in diesen Fällen – bei entsprechend transparenter Nachweisführung – möglich.

Wie aus der Tabelle zu entnehmen ist, gibt es im gesamten Mai 2017 keine Nacht (22 Uhr bis 7 Uhr des Folgetages), in der eine vollständige Regelkonformität gegeben ist. Lediglich im morgendlichen Teilzeitraum von 6 Uhr bis 7 Uhr hat an zwei Tagen ein regelkonformer Betrieb (Starts über RWY 33 und Landungen über RWY 15) stattgefunden. Zusätzlich wurden in diesem Monat die Bahnbenutzungsregeln an einem weiteren Frühmorgen zumindest passiv eingehalten. Erhellend ist die Feststellung, dass in den beiden Nächten, in denen die Regeln aktiv eingehalten wurden, jeweils nur eine einzige Landung im sogenannten „Gegenanflug“ (opposite traffic) stattgefunden hat. Offensichtlich basieren die meisten Regelmissachtungen auf einem quantitativen Problem – der Vielzahl an Flugbewegungen (Starts und Landungen) in der letzten und ersten Betriebsstunde.

Der Mai 2017 stellt keine Besonderheit hinsichtlich der minimalen Regeleinhaltung dar. Auch im Januar, Februar, März, April und Juni fallen die Ergebnisse vergleichbar negativ aus. Im gesamten ersten Halbjahr 2017 wurde lediglich an zwei Tagen Nächten (Zeitraum 22 Uhr bis 7 Uhr) nicht gegen die Regeln verstoßen (jeweils eine Nacht im Januar und im März).

Warum werden die Bahnbenutzungsregeln penetrant nicht eingehalten?

Der Flugverkehr zwischen 22 Uhr und 6 Uhr unterscheidet sich qualitativ von dem zwischen 6 Uhr und 7 Uhr insbesondere dadurch, dass in den Abend- und Nachtstunden überwiegend Landungen durchgeführt werden. In der ersten offiziellen Betriebsstunde von 6 Uhr bis 7 Uhr dominieren dagegen Starts. Die Beachtung der Regel, dass – zusätzlich zu etwaigen Starts über die RWY 33 – in der Zeit zwischen 22 Uhr und 7 Uhr für Landungen die RWY 15 zu benutzen ist, hat zur Folge, dass aufgrund des dann gegebenen gegenläufigen Flugverkehrs zwischen Start und Landung ein zeitlicher Sicherheitsabstand von vier bis sechs Minuten liegen soll.

Als im Juni 2017 die RWY 05/23 für zwei Wochen gesperrt war, mussten folglich alle Starts und Landungen – unabhängig von den vorherrschenden Windverhältnissen (!) – über die Pistenkonstellation RWY 15/33 abgewickelt werden. Die Bahnbenutzungsregeln wurden in diesem Zeitraum in keiner Nacht eingehalten: Wenn Starts über die RWY 33 erfolgt sind, wurden die Landungen mit wenigen Abweichungen im Einbahnbetrieb in gleicher Himmelsrichtung über die RWY 33 geleitet. Umgekehrt wurden Landungen über die RWY 15 geführt, wenn Starts über die RWY 15 erfolgt sind.

Die durch die erste und dritte Bahnbenutzungsregel seit den 1970er Jahren erstmalig und im Jahr 2013 erneut bindend bestätigte Betriebsweise des Gegenanfluges wurde während der zweiwöchigen Pistensperrung nicht durchgeführt. Dies hat eine fortwährende Verletzung der zweiten Bahnbenutzungsregel zur Folge. Aufgrund der technisch bedingten Ausnahmesituation (Sanierungsarbeiten an der RWY 05/23) sind diese Regelverstöße von den aufgeführten möglichen Ausnahmen („Bahnverhältnisse“) gedeckt. Dennoch wird an diesem Beispiel deutlich, dass beim aktuell hohen bis sehr hohen Verkehrsaufkommen der für die letzte und erste Betriebsstunde aus Lärmschutzgründen vorgesehene „Gegenverkehrsbetrieb“ praktisch nicht durchführbar ist. Da dies nicht „plötzlich und unvorbereitet“, sondern geplant geschieht, werden die resultierenden Regelverstöße mindestens billigend in Kauf genommen, wenn nicht sogar aktiv herbeigeführt. Bewertend einzubeziehen ist in diesem Zusammenhang die zeitliche Korrelation mit den auf katastrophal hohem Niveau befindlichen nächtlichen Verspätungszahlen: Regelverstöße mit System!

Der Koordinationseckwert, der die maximale Anzahl an pro Zeiteinheit sicher durchführbaren Flugbewegungen angibt, liegt für den Hamburger Verkehrsflughafen im gemischten Start- und Landebetrieb (derzeit) bei 48 Stück pro Stunde. Für Flugbewegungen ausschließlich in eine Richtung (d.h. nur Starts oder nur Landungen) beträgt dieser Wert 31 Stück pro Stunde. Diesen Eckwerten liegt die zusammenhängende Nutzung beider Start- und Landebahnen zugrunde. Im gegenläufigen Einbahnflugbetrieb sind bei einem ständigen Wechsel von Start und Landung („kapazitätsminderndes Pendel-Reißverschlussprinzip“) lediglich 10 bis 15 Flugbewegungen pro Stunde möglich. Diese betriebseinschränkende Pistenkonstellation ist rechtlich gewollt und seit Jahrzehnten allgemein be- und anerkannt. Sie stellt ein wichtiges Instrument des aktiven Fluglärmschutzes am Hamburger Verkehrsflughafen dar. Dementsprechend hat die langjährig weitgehend unverändert bestehende Bahnbenutzungsregelung vollumfänglich Anwendung zu finden.

Zwischenfazit:

Allein aufgrund immer höherer Flugbewegungsanzahlen in der letzten und ersten Betriebsstunde wird zunehmend (vorsätzlich) gegen eine langjährig bewährte Schutzmaßnahme der Bevölkerung vor unzumutbarem Fluglärm verstoßen. Dies stellt den hierfür Entscheidung Tragenden (Deutsche Flugsicherung GmbH – DFS, Flughafen Hamburg GmbH – FHG, Behörde für Wirtschaft, Verkehr und Innovation – BWVI, Behörde für Umwelt und Energie – BUE, Hamburger Gesellschaft für Vermögens- und Beteiligungsmanagement mbH – HGV, Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg – FHH) ein gravierend schlechtes Zeugnis aus. Das ungezügelte Bedienen des individuellen Mobilitätsinteresses wird über das berechtigte Schutzbedürfnis der Bevölkerung (Wohl der Allgemeinheit) gestellt.

Wenn die zeitlichen Abstände zwischen den einzelnen Starts und Landungen derart vergrößert werden, dass ein regelkonformer „Gegenverkehrsbetrieb“ möglich wird, können – im Vergleich zu heute – entsprechend weniger Flugzeuge pro Zeiteinheit abgewickelt werden. Es liegt nahe, dass die FHG hieran kein Interesse hat. Aus diesem Grund muss spätestens die Kontrollbehörde (BUE) mit der dort ansässigen Fluglärmschutzbeauftragten verbindlich eingreifen, um dem penetranten Regelverstoß einen wirksamen Riegel vorzuschieben. Der im Fluglärmschutzbeauftragtengesetz festgeschriebene Auftrag „Bekämpfung des Fluglärms“ bildet Rahmen und Zielrichtung dafür.

Die Forderung seitens der Betroffenen lautet: Um einen hinreichenden Interessensausgleich zwischen den direkten und indirekten Belastungsverursachern (Fluggesellschaften und Flughafenbetreiber) mit den durch ihr Handeln zu Betroffenen werdenden zu erreichen, muss im Zeitraum von 22 Uhr bis 23 Uhr sowie zwischen 6 Uhr und 7 Uhr die Anzahl der Flugbewegungen derart reduziert werden, dass die bestehenden Schutzregeln für die Bevölkerung (Bahnbenutzungsregeln und Nachtflugbeschränkung) sicher eingehalten werden. Alles andere ist unsozial und ggf. auch rechtswidrig!

Fortsetzung folgt …