Die magische Zahl

Barack Obama log im Durchschnitt zwei Mal pro Jahr öffentlich. Donald Trump lügt fünfmal pro Tag“ (DLF vom 03.01.18); beides scheint – zumindest für weite Teile der US-amerikanischen Bevölkerung – zum jeweiligen Zeitpunkt akzeptabel. Woher kommt dieser Wertewandel? Was hat dieses Beispiel mit der aktuellen Debatte dem eskalierenden Streit um das Ausmaß Übermaß der nächtlich verspäteten Starts und Landungen (außerhalb der offiziellen Betriebszeit) am innerstädtisch gelegenen Hamburger Verkehrsflughafen „Helmut Schmidt“ zu tun? Es geht um die Erfassung und Bewertung sich ändernder Belastungszustände:

Shifting Baseline ist ein Begriff aus der Umweltforschung, der von dem französischen Meeresbiologen Daniel Pauly stammt. Er beschreibt das Phänomen, dass sich Orientierungspunkte, anhand derer Menschen ihre Umwelt beurteilen, schleichend verschieben. Was heute normal erscheint, war gestern ein Skandal und vorgestern undenkbar. Übermorgen wird dann rückblickend auf heute „von der guten alten Zeit“ gesprochen. Das Shifting-Baseline-Syndrom (SBS) bezeichnet eine verzerrte und eingeschränkte Wahrnehmung des Wandels. Hierbei kommt es zu einer Verschiebung von Referenzpunkten, die der menschlichen Wahrnehmung beim Bemessen des Ausmaßes einer Veränderung dienen. Manche Veränderungen vollziehen sich in vielen Einzelschritten. Insbesondere wenn ein abnehmender oder zunehmender Trend zu verzeichnen ist, ändert sich das (relative) Ausmaß der Veränderung, je nachdem welcher Bezugspunkt gewählt wird.

Folgendes Beispiel mag das SBS verdeutlichen: In der Wissenschaft geht es häufig um Fragen, welcher Umweltzustand als „normal“ empfunden wird. Eine wissenschaftliche Studie untersuchte die Wahrnehmung von Fischbeständen an der kalifornischen Küste. Forscher befragten drei Generationen von heimischen Fischern, wie sich der Fischbestand in ihrer Bucht im Laufe der Zeit verändert habe. Allen Befragten war bewusst, dass sich der einstige Fischreichtum wesentlich verschlechtert hat. Während die ältesten Fischer sich noch an elf Arten erinnerten, die sie einst vor der Küste fingen und die heute nicht mehr zu finden waren, nannten die jüngsten Fischer nur noch zwei Fischarten, die es früher einmal gab und die heute nicht mehr gefangen wurden. Ihre Beobachtung (Wertung) der Umweltveränderung setzte an einem anderen Referenzpunkt an. Sie nahmen lediglich die Verschlechterung der Fischbestände aus ihrem (eingeschränkten) Erfassungs- und Bewertungszeitraum wahr. Das Fehlen der Fischarten gegenüber dem früheren (deutlich besseren) Zustand war ihnen nicht bewusst.

Zwei gesellschaftskritische Artikel zum SBS sind nachzulesen im Spiegel „Blindflug durch die Welt“ sowie in der Zeit „Gestern böse, heute normal“. Zurück zur Entwicklung des nächtlichen Fluglärms in und um Hamburg:

Abb. 1: Anzahl (monatlich kumulierte Werte) nächtlich verspäteter Starts und Landungen am innerstädtisch gelegenen Hamburger Verkehrsflughafen „Helmut Schmidt“ in den Jahren 2011 bis 2018. Relevanzschwelle: 120 Flugbewegungen von Linien- und Touristikfliegern zwischen 23 Uhr und 06 Uhr pro Jahr; Toleranzgrenze: 330 Flugbewegungen von Linien- und Touristikfliegern zwischen 23 Uhr und 06 Uhr pro Jahr; Senatskennzahl: 550 Flugbewegungen von Linien- und Touristikfliegern zwischen 23 Uhr und 06 Uhr pro Jahr; „magische Zahl der FHG“: 1.000 Flugbewegungen von Linien- und Touristikfliegern zwischen 23 Uhr und 06 Uhr pro Jahr

Die Höhe der Relevanzschwelle und der Toleranzgrenze leitet sich folgendermaßen ab: Wenn in 3 – 5 % der Nächte eines Jahres 1 – 3 Starts (n = 10 – 55 p.a.) sowie in 10 – 15 % der Nächte 3 – 5 Landungen (n = 110 – 275 p.a.) stattfinden, kann dies noch als statistisch unauffällig angesehen werden. Höhere Quoten lassen dagegen einen systematischen Missbrauch der Verspätungsregelung vermuten. Die Senatskennzahl stellt eine politische Willensbekundung dar. Sie ergibt sich schlicht aus der Anzahl der Nächte eines Jahres multipliziert mit 1,5. Dies bedeutet, dass der Senat (durchschnittlich) 1,5 Starts oder Landungen nach 23 Uhr pauschal in Ordnung findet. Nebenbei: Das Produkt (n = 550) deckt sich mit der Anzahl an nächtlich verspäteten Starts und Landungen des Jahres 2012.

All diese Zielwerte scheren den Chef der Flughafen Hamburg GmbH (FHG), Michael Eggenschwiler, wenig bis gar nicht. Frei nach dem CredoPünktlichkeit ist reine Hexerei“ erfindet er jetzt „die magische Zahl“ von maximal 1.000 Flugbewegungen von Linien- und Touristikfliegern am „Helmut Schmidt-Airport“ zwischen 23 Uhr und 06 Uhr pro Jahr. Eine Verdopplung der maßgeblichen Belastungsgröße „Anzahl an nächtlich verspäteten Starts und Landungen außerhalb der offiziellen Betriebszeit“ gegenüber der des Senats, stellt eine Halbierung des Schutzanspruches für die Bevölkerung dar. Dies ist ein Paradebeispiel, wie mit der mutwilligen Verschiebung einer Kennlinie (Stichwort: Shifting Baseline) ein gravierender Missstand „klein gemacht“ werden soll.

Nachfolgende Statements zur „magischen FHG-Verspätungszahl“ sind folgenden Quellen entnommen: HA vom 20.09.18, NDR vom 20.09.18, HA vom 21.09.18, Presseseite DIE LINKE:

Michael Eggenschwiler (Chef der kommerziellen Flughafenbetreibergesellschaft): „Das Ziel muss es sein, bei den Flugbewegungen zwischen 23 und 24 Uhr auf jeden Fall unter die magische Zahl 1.000 zu kommen. Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht. Nur ein sehr kleiner Teil der Verspätungen von vier oder fünf Prozent hat seine Ursache hier in Hamburg“

Jens Kerstan (Umweltsenator der Stadt Hamburg): „Es ist unser Ziel, die Verspätungen nach 23 Uhr deutlich zu senken. Die aktuell gültige Zielzahl liegt bei 550 pro Jahr. An dieser Zahl orientieren wir uns

Stephan Jersch (Umweltpolitischer Sprecher der Bürgerschaftsfraktion DIE LINKE): „Die Zahl der Verspätungen am Hamburger Flughafen nimmt weiterhin dramatisch zu. Trotzdem meint Flughafenchef Michael Eggenschwiler, der Flughafen habe seine Hausaufgaben gemacht. Nachdem Rot-Grün die Volkspetition „Nachts ist Ruhe“ im Handstreich abgelehnt und nur einen verpfuschten Kompromiss zur Fluglärmminderung zugelassen hat, kommen nun entlarvende Worte aus dem Flughafen. Mit dieser Einstellung ist schon abzusehen, dass auch zukünftig Verspätungsrekorde in die Trophäensammlung des Flughafens kommen werden. Zwar seien die Handlungsmöglichkeiten Hamburgs seit der weitgehenden Deregulierung des europäischen Flugmarktes stark eingeschränkt. Aber selbst in den Bereichen, in denen über den Bundesrat oder in den Arbeitsgruppen des Flughafenverbandes gehandelt werden könnte, zeichnet sich Hamburg durch mutwillige Passivität aus. Der Wille, den untragbaren Verspätungszustand zu beenden, ist nachweislich nicht vorhanden. Einem Schüler seine ungenügenden Leistungen durchgehen zu lassen, nur weil der bockig meint, er habe seine Aufgaben doch gemacht, hilft nicht. Die Versetzung des Flughafens ist akut gefährdet, wenn es nicht größere Anstrengungen gibt, die Hausaufgaben wirklich zu machen und die Einhaltung der Nachtruhe wieder herzustellen

Kurt Duwe (Vizepräsident der Hamburgischen Bürgerschaft, FDP): „Lediglich die Marke von 1.000 Flügen unterschreiten zu wollen, kann nicht der Anspruch sein. Die Airlines brauchen mehr Druck, Landezeiten nicht erst kurz vor 23 Uhr anzusetzen. Sonst sind verspätete Flüge programmiert. Für den Senat hat der Lärmschutz für Anwohner nicht den Stellenwert, den er braucht

Dennis Thering (Verkehrspolitischer Sprecher der CDU-Bürgerschaftsfraktion): „Die magische Zahl von 1.000 ist wenig ambitioniert für den Flughafen – 1.000 ist deutlich zu hoch. Wir erwarten eine deutliche Absenkung der Verspätungen

Unabhängig davon, dass 1.000 Starts und Landungen nach 23 Uhr am „Helmut Schmidt-Airport“ bei weitem keinen hinreichenden Interessensausgleich zwischen den Fluglärmprofiteuren und den Leidtragenden darstellen, stellt sich die Frage, ob von den bisher seitens der FHG für das laufende Jahr ausgewiesenen 876 nächtlich verspäteten Flugbewegungen (s.o.) alle die auflösende Bedingung „nachweisbar unvermeidbar“ (besser: nachgewiesenermaßen unvermeidbar) erfüllen.

Abb. 2: Anzahl und Anteil unvermeidbarer und vermeidbarer nächtlicher Flugbewegungen am innerstädtisch gelegenen Hamburger Verkehrsflughafen „Helmut Schmidt“ im Jahr 2018 (Auswertungszeitraum: Januar bis August). Die seitens des kommerziellen Flughafenbetreibers (FHG) angegebene Gesamtzahl von bisher 876 Starts und Landungen von Linien- und Touristikfliegern im laufenden Jahr 2018 bezieht sich auf die Zeitspanne von 23 Uhr bis 24 Uhr. Hieraus ergibt sich eine Differenz von 16 Starts und Landungen zu der offiziellen Auskunft des Hamburger Senats (FHH Drs. 21/14288) von 892, welche auch die – nochmals belastenderen – Flugbewegungen nach Mitternacht „einpreist“. Die FHG „unterschlägt“ diese Flüge in ihrer Statistik. Anmerkung: Im NoFlyHAM-Blogbeitrag „Pyrrhussieg“ vom 09.09.18 wird für den obigen Auswertungszeitraum die Anzahl von 889 nächtlich verspäteten Starts und Landungen zwischen 23 Uhr und 06 Uhr ausgewiesen. Damit besteht lediglich eine sehr geringe Differenz zur offiziellen Senatszahl. Die „Fangquote“ beträgt 99,6 %. Dies ist ein starker Beleg für die ausgezeichnete Erfassungsmethode (Auswertung der Daten des Deutschen Fluglärmdienstes – DFLD e.V.). Konsequenz ist, dass die auf diesen Zahlen basierenden Ableitungen belastbar sind

Im HA-Artikel „Immer mehr Nachtflüge – was dahintersteckt“ von Wolfgang Horch und Volker Mester vom 20.09.18 werden auf Basis von Zuarbeiten der Flughafenbetreibergesellschaft (FHG) „Gründe“ der nächtlich verspätetet stattfindenden Starts und Landungen für das laufende Jahr mit ihrem jeweiligen Anteil am Gesamtaufkommen gelistet. Dabei werden folgende Kategorien unterschieden:

Flugkoordination („unrichtig“ als Flugsicherung bezeichnet): Innerhalb Deutschlands ist die DFS GmbH für die Staffelung von Flugzeugen, die Organisation und Beschleunigung des Luftverkehrsflusses sowie die Bereitstellung von Informationen und Unterstützung der Piloten zuständig. Hierbei wird der Luftraum in verschiedene Korridore aufgeteilt. Insbesondere über Deutschland sind diese Flugkorridore häufig überlastet. Jede Fluggesellschaft trägt mit ihrem Handeln zur Überlastung bei. Mehr Fluglotsen können diesen „Stau am Himmel“ nur bedingt abbauen. Da die Flugkoordination eine gezielte Handlung darstellt, sind nächtliche Verspätungen, die hieraus resultieren als abwendbar (d.h. vermeidbar) anzusehen.

Umlaufverspätung: Eine Umlaufverspätung kommt dadurch zustande, dass die Fluggesellschaften zur Gewinnmaximierung die Standzeiten am Boden zu knapp bemessen. Bereits bei der kleinsten „Verzögerung im Betriebsablauf“ (s.o. und u.) kann dann der Flugplan nicht mehr eingehalten werden. Da schlechte Planung heilbar ist, sind nächtliche Verspätungen, die hieraus resultieren als abwendbar (d.h. vermeidbar) anzusehen.

Wetter: Im Winter ist damit zu rechnen, dass es derart kalt (und feucht) ist, dass Flugzeuge enteist werden müssen. Hieraus ein unvorhersehbares Ereignis ableiten zu wollen, ist absurd. An der klimabedingten Zunahme von Extremwetterereignissen (insbesondere in den Sommermonaten), ist der Luftverkehr wesentlich beteiligt, d.h. er ist Teil des Problems. Schlechtwetter (norddeutsch: Schietwetter) kann daher nur bedingt als unvermeidbarer nächtlicher Verspätungsgrund angesehen werden.

Technik: Technikversagen an Verschleißteilen fußt auf mangelhafter Wartung – dies ist vermeidbar. Unvorhersehbares Technikversagen kann als solches anerkannt werden. Technische Gründe können daher nur bedingt als unvermeidbarer nächtlicher Verspätungsgrund angesehen werden.

Crew: Knickt der Steward auf der Rolltreppe um oder kommt die Pilotin zu spät zum Gate, kann dies nicht ernsthaft als unvermeidbar angesehen werden. Nächtliche Verspätungen, die aus Personalgründen resultieren sind vollumfänglich vermeidbar.

Abfertigung: Das händische Be- und Entladung eines Passagierflugzeuges erinnert eher an mittelalterlichen Bergbau, denn an das 21. Jahrhundert – „Knechten für die Billigflieger“ ist das Motto. Kein Wunder, dass sich bei dem gezahlten Hungerlohn zunehmend weniger Personal findet. Da schlechter Bezahlung und krankmachenden Arbeitsbedingungen Abhilfe geleistet werden kann, sind nächtliche Verspätungen, die abfertigungsseitig entstehen, vollumfänglich vermeidbar.

Sicherheit: Niemand am Boden möchte, dass ihm ein Flugzeug auf den Kopf fällt. Hinreichende Sicherheitskontrollen sind daher unabdingbar. Nächtliche Verspätungen, die aus Sicherheitsaspekten resultieren, sind unvermeidbar.

Streiks: Wenn die Arbeitsplatzbedingungen derart schlecht sind, wie im Billigflugsektor, muss man/frau sich über Streiks nicht wundern. Gute Bezahlung und wertschätzender Umgang mit dem Personal reduzieren Streiktage maßgeblich. Nächtliche Verspätungen aufgrund von Streiks sind daher nur bedingt als unvermeidbar anzusehen.

Sonstiges: Was als „Verspätungsgrund“ hierunter zu verstehen ist, weiß nur die FHG. Hier von einer Unvermeidbarkeit auszugehen, würde die entgegenzubringende Eignungshöffigkeit überanstrengen. Nächtliche Verspätungen aus „sonstigen Gründen“ sind vermeidbar.

Deutlich wird, dass der weitaus größte Teil der zwischen 23 Uhr und 24 Uhr am innerstädtischen Hamburger Verkehrsflughafen „Helmut Schmidt“ vollzogenen Starts und Landungen aus nichtigen (vermeidbaren) Gründen stattfindet! Bei acht von zehn nächtlich verspäteten Flugbewegungen wird die in der Flughafenbenutzungsordnung festgeschriebene Unvermeidbarkeit nicht erfüllt. Dies bedeutet, dass die FHG ihren Betreiberpflichten nicht nur unzureichend nachkommt, sondern diese wissentlich missachtet (vgl. NoFlyHAM-Blogbeitrag „Bedingter Vorsatz“). Stellt sich die Frage, warum die zuständige Aufsichtsbehörde (BWVI) dies duldet? Vielleicht weil die Haupteigentümerin der FHG die Stadt Hamburg ist!

Ausblick:

Am 26. Oktober 2018 wird die Hamburgische Bürgerschaft abschließend über die BUND-Volkspetition „Nachts ist Ruhe – Fair für alle, gut für Hamburg debattieren und entscheiden. Es ist unwahrscheinlich, dass ein besseres Ergebnis als der im Umweltausschuss – gegen die Stimmen der CDU, DIE LINKE, FDP und AfD – von der rot-grünen Stimmenmehrheit beschlossene „21 Pünktchenplan“ dabei herauskommt. Die „magische FHG-Zahl“ von 1.000 nächtlich verspäteten Starts und Landungen nach 23 Uhr mag damit möglicherweise erreicht werden. Dies darf jedoch nicht der Bewertungsmaßstab im Hinblick auf eine zwingend notwendige wesentliche Belastungsreduzierung sein.

Am 5. Oktober hat der Bundesverkehrsminister, Andreas Scheuer (CSU), gemeinsam mit Hamburgs Erstem Bürgermeister, Peter Tschentscher (SPD), nach Hamburg zu einem „Luftfahrtgipfel“ geladen. Offizielle Vertreter*innen der Fluglärmbekämpfung (z.B. der Arbeitsgemeinschaft der deutschen Fluglärmkommissionen (ADF) und der Bundesvereinigung gegen Fluglärm (BVF)) sind nicht eingeladen. Wozu auch; bei dem Treffen soll es nicht um eine Belastungsreduzierung für die vom Fluglärm betroffenen Bürgerinnen und Bürger gehen, sondern darum, dass es für die Passagiere wieder etwas bequemer (zuverlässiger) wird. Trotzdem steht schon jetzt fest, dass das Treffen „ein großer Erfolg wird“ – zumindest für die Luftverkehrslobbyisten