Gesellschaft mit beschränkter Haltung

Der Himmel fliegt in Fetzen. Das Herz spannt sich an, wird nervös, verzweifelt. Wird das denn nie aufhören? Durch das abendliche Schlafzimmerfenster sieht man die Lichter der landenden Flugzeuge, hintereinander aufgereiht wie auf einer Autobahn, die den Horizont quert. Unten der verlassene alte Garten. Das Dröhnen wird immer nur für einen kurzen Moment unterbrochen; denn die Flugzeuge kommen im Minutentakt. Weltkriegsdröhnen, ein Albtraum“, beschreibt ein eindringlicher Artikel der taz vom 21.07.17 die beklemmende Lebenswirklichkeit der Bewohner (w/m) in den Ein- und Abflugschneisen der großen deutschen Verkehrsflughäfen.

Für die vom Fluglärm und Flugdreck betroffenen Bürgerinnen und Bürger ist es schwer, angemessen auszudrücken, was der permanente Raub der Stille bedeutet; insbesondere gegenüber denjenigen, die häufig gerne billig hin und her fliegen, jedoch selbst nicht unter der zumeist sinnarmen privaten Vielfliegerei zu leiden haben. Lebensräume werden nicht nur durch Beton und Chemikalien zerstört, sondern auch durch Lärm. Fluglärm raubt uns gesunde Lebensjahre, Fluglärm lässt unsere Kinder schlechter lernen, Fluglärm mindert den Wert unseres Eigentums. Fluglärm spaltet die Gesellschaft in die Masse der Nutznießer und die Minderheit der Leidtragenden.

Abb.: Sonderbriefmarke der Deutschen Bundespost anlässlich der Einweihung der damals modernisierten und erweiterten Flughafengebäude in Berlin-Tegel im Jahr 1974. Im Zuge der Eröffnung des seit 2006 im Bau befindlichen Verkehrsflughafens Berlin Brandenburg (BER), dessen Inbetriebnahme ursprünglich für das Jahr 2013 vorgesehen war, sollte der Flughafen in Tegel am Abend des 2. Juni 2012 dauerhaft geschlossen werden. Mit dann sieben Jahren Verspätung soll nun die BER-Eröffnung im Jahr 2020 zelebriert werden. Streng nach Gesetz arbeitet der Verkehrsflughafen in Berlin-Tegel seit mehr als zehn Jahren ohne Betriebsgenehmigung. Nunmehr soll er „nach Volkes Stimme“ unbefristet weiterbetrieben werden …

Fliegen ist mit weitem Abstand der umweltschädlichste Verkehrsträger – auch wenn die Luftverkehrslobby nicht müde wird (wider besseren Wissens) anderes zu behaupten. Beispielsweise verursacht ein Hin- und Rückflug zwischen Hamburg und Palma de Mallorca im Durchschnitt 1.200 kg CO2 pro Passagier. Dies entspricht der Hälfte des jährlichen CO2-Budgets eines klimaschutzbewussten Menschen. Die taz vom 09.09.17 weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass mittlerweile auch die letzten Moralisten unter den Ökologen und Klimaforschern skeptisch sind, dass individuelles Handeln imstande sei, die global zunehmende Klimaerwärmung zu berücksichtigen, wenn gleichzeitig mögliche Einschränkungen des individuellen Entfaltungsdrangs und etwaiger Verzicht kurzfristiger Lustbefriedigungen damit verbunden sein könnten. Zu mächtig sind die aufgebauten Systemzwänge einerseits und die scheinbaren Attraktionen des „spätmodernen Spektakulums“ andererseits. Nach dem Event ist vor dem „Event“ .

Die taz vom 12.09.17 berichtet im Zusammenhang mit dem Volksentscheid über die Zukunft des Verkehrsflughafens in Berlin-Tegel, dass „die direkte Demokratie das rechtlich verbindlichste Instrument einer außerparlamentarischen Opposition innerhalb eines repräsentativen Systems ist. Sie ist ein Mittel für die Bevölkerung, sich, wie der Name schon sagt, direkt einzumischen, politischen Streit zu führen und schließlich auch einen politischen Willen jenseits der zwischen Verwaltung und Parlament ausgehandelten Gesetze durchzusetzen“.

Völlig anders verhält es sich jedoch mit dem Volksbegehren „Berlin braucht Tegel“ sowie dem daraus resultierenden Volksentscheid, der am 24. September 2017 – parallel zur Bundestagswahl – stattfand. Fakt ist, dass die Initiative hierzu nicht aus der Bevölkerung direkt kam, sondern von einer in der letzten Wahlperiode nicht im Berliner Abgeordnetenhaus vertretenen politischen Partei, der FDP. Der Stuttgarter Zeitung vom 19.09.17 ist zu entnehmen: „Was die Abstimmung jedoch offenlegt, ist eine empfindliche Schwachstelle plebiszitärer Elemente in der parlamentarischen Demokratie: Betrachtet man ein Volksbegehren als wichtige Möglichkeit der Bürger, ihren politischen Willen jenseits des Parlaments durchzusetzen, dann wird dieses Instrument gerade missbraucht“.

Die taz vom 12.09.17 weist eindringlich darauf hin, dass die Trägerin des Volksentscheids, die Initiative „Berlin braucht Tegel“, unter derselben Adresse residiert wie die Landesgeschäftsstelle der Berliner FDP. Als Ansprechpartner wurden schon vor der letzten Wahl im Jahr 2016 der Berliner FDP-Generalsekretär Sebastian Czaja, heute Fraktionsvorsitzender, und Marcel Luthe, heute ebenfalls Abgeordneter, genannt. Fest steht, dass Volksbegehren und Volksentscheide, die in erster Linie auf parteipolitische Erwägungen ausgerichtet sind, die gewollten Instrumente der direkten Demokratie aushöhlen. Man muss hier von einem unstatthaften Gebrauch, ja von einem Missbrauch dieser Art von Gesetzgebung sprechen. Es handelt sich jedoch nicht nur um ein Problem des demokratischen Anstands, sondern um eine handfeste Gefahr für die sogenannte Volksgesetzgebung. Denn wenn es zur unwidersprochenen Regel werden sollte, dass Volksbegehren von politischen oder wirtschaftlichen Institutionen mit eigenen Apparaten initiiert werden, denen weitaus mehr Mittel, mediale Zugänge und Plattformen zur Verfügung stehen als herkömmlichen Zusammenschlüssen aus der Bevölkerung oder Nichtregierungsorganisationen (NGO), dann ist der Weg nicht mehr weit zu einem institutionalisierten Lobbyismus.

Im Vorwege des Volksentscheids zur Zukunft des innerstädtisch gelegenen Verkehrsflughafens in Berlin-Tegel stellt die Stuttgarter Zeitung vom 19.09.17 klar, „dass es eine recht dreiste politische Unredlichkeit sei zu behaupten, die Berliner könnten tatsächlich darüber abstimmen, ob der alte Flughafen Tegel schließen soll oder nicht. Das beginnt schon mit dem Text der Abstimmung. Man kann einen Volksentscheid so formulieren, dass er Gesetzeskraft erlangt. Aber die Initiatoren des Entscheids haben darauf bewusst verzichtet. Abgestimmt wird eine Art Wünsch-dir-was, mehr nicht. Zudem gehört der Flughafen nicht Berlin alleine, sondern auch Brandenburg und dem Bund. Beide sind für die Schließung. Selbst wenn alle Eigentümer einig wären, gälte zunächst die Rechtsprechung in höchster Instanz: Die Schließung, sobald der BER eröffnet, ist Rechtslage.

Abb.: Stimmzettel zum Volksentscheid 2017 mit der Aufforderung an den Berliner Senat, den unbefristeten Fortbetrieb des Verkehrsflughafens „Otto Lilienthal“ in Berlin-Tegel zu gewährleisten. Die möglichen Antworten auf einen hoch komplexen und gleichzeitig komplizierten Sachverhalt reduzieren sich digital auf „Ja“ oder „Nein“. Zugespitzt steht hinter der Frage die individuelle Entscheidung, ob jede(r) Einzelne bereit ist, einen Teil seiner/ihrer eigenen Bequemlichkeit zugunsten der Gesundheit und Lebensqualität zumeist unbekannter Dritter „zu opfern

Wie wird sich der Luftverkehr entwickeln? Hat der BER genug Kapazität?“ fragt sich die Berliner Zeitung am 22.09.17. Aus aktuellen Daten des Bundesverkehrsministeriums lässt sich ableiten, dass 29 % der Flüge von und nach Berlin ohne Komforteinbußen auf die Bahn verlagert werden könnten. Somit gibt es ein großes Verlagerungspotenzial vom Flugverkehr auf die Schiene. Allein in Tegel hatten im vergangenen Jahr rund 64.700 Flüge das Potenzial, durch die Bahn kompensiert zu werden. In ganz Berlin waren es ca. 76.900. In Tegel steuerten 53 % aller Flüge Ziele an, die weniger als 600 km entfernt waren – derartige Distanzen sind meist ideal für Zugreisen.

Bei ungefähr vier Stunden Reisezeit liegt sprichwörtlich die Schmerzgrenze. Noch längere Bahnreisen gelten Vielen als zu beschwerlich. Jedoch dauern auch innerdeutsche Flugreisen fast so lange – wenn das Einchecken, die Sicherheitsprüfungen sowie erforderliche Wartezeiten ehrlich einberechnet werden.

Wenn mehr Menschen Bahn fahren würden, wäre Tegel komplett überflüssig“, ist sich die Berliner Zeitung vom 22.09.17 sicher. „Kohlendioxid? Klima? Lärm? Mir doch egal! Wenn es ums Verreisen geht, ist für viele Menschen die Sache klar: lieber per Flug als per Zug, auch innerdeutsch, na klar. Hauptsache billig – das ist meist der entscheidende Faktor. Während sich Zugbetreiber wie die Deutsche Bahn mit Gewerkschaften arrangieren müssen und hohe Trassengebühren zu zahlen haben, nicht zu vergessen Öko-, Mineralölsteuer und die Erneuerbare-Energien-Umlage, dürfen Airlines mit niedrigeren Kosten kalkulieren“, fasst die Berliner Zeitung die persönlichen und gesetzlichen Rahmenbedingungen zusammen. Die Deutschen fliegen immer öfter auch kurze Strecken, kaufen spritschluckende Stadtgeländeautos (SUV) und lärmen mit Quads durch die Botanik, als gäbe es kein Morgen. Die Süddeutsche Zeitung vom 14.07.17 bringt in diesem Zusammenhang das zu Tage tretende Spaßgesellschafts-Motto auf den Punkt: „Urlaub war uns wichtiger als eure Zukunft, sorry!Luftverschmutzung, nur so zum Spaß!

Abb.: Der Umweltatlas Berlin zeigt die theoretische Lärmkarte des Verkehrsflughafens „Otto Lilienthal“ in Berlin-Tegel, verschnitten mit der Bevölkerungsdichte der grundsätzlich betroffenen Wohngebiete. Wenn es nicht so viele „Einzelfreigaben“ für die Piloten (w/m) durch die DFS GmbH (kommerzielle Betreibergesellschaft der Flugsicherung innerhalb Deutschlands) gäbe und nicht durch schlechte fliegerische Praxis (z.B. „Flachstartverfahren“) die Norm-Fluglärmwerte für Starts und Landungen regelmäßig weit übertroffen werden würden, könnte aus dieser Darstellung das Maß der quantitativen Betroffenheit – und unter der irrigen Annahme, dass Dauerschallpegel ein hinreichendes Abbild der qualitativen Belastung sind auch des Grades der individuellen Betroffenheit – abgelesen werden. Die reale Betroffenheit gestaltet sich jedoch deutlich abweichend vom numerischen Modell

Das Ergebnis des undemokratischen Volksentscheides (s.o.) ist insofern bemerkenswert, dass lediglich 56,1 % der Wählerinnen und Wähler gegen die planfestgestellte Schließung des Verkehrsflughafens in Berlin-Tegel stimmten. Insgesamt 41,7 % forderten – obwohl die unmittelbare Fluglärm-Betroffenheit „nur“ bei 12 % der Bevölkerung Berlins liegt – regelkonform eine Schließung Tegels nach der Eröffnung des neuen Hauptstadtflughafens (BER) in den kommenden Jahren. Der Tagesspiegel vom 25.09.17 erläutert das Abstimmungsverhalten in den verschiedenen Bezirken – und die dahinterstehenden Interessenslagen: „Deutliche Befürworter der Offenhaltung finden sich unter den älteren Bürgern in Charlottenburg und in den Regionen nahe dem BER. Dagegen seien die Gegner der Offenhaltung weder partei- noch sozialstrukturspezifisch zu identifizieren. Ihr Hauptmerkmal ist die Lage in der Einflugschneise des Flughafens Tegel. Im Klartext: Wer den Lärm hat, will endlich Ruhe. Wer mehr Lärm befürchten muss, will ihn fernhalten. Und wer den TXL schnell erreicht, ohne unter dessen Lärm zu leiden, hätte es gern weiter so bequem“.

Jeder ist sich selbst der Nächste – und das natürlich auch bei der Wahl des Kästchens, das man ankreuzt“ ergänzt der Tagesspiegel am 26.09.17. Überrascht hat es daher den Bezirksbürgermeister von Treptow-Köpenick nicht, dass sich in seinem Bezirk eine satte Mehrheit für die Offenhaltung des Flughafens Tegel ausgesprochen hat: „Bei der Standortentscheidung zugunsten von Schönefeld hat es auch keine Solidarität von der übrigen Stadt für die Berliner in unserem Bezirk gegeben. Deshalb fühlten die Bürger aus Treptow-Köpenick nun ihrerseits auch nicht solidarisch mit den in Tegel vom Fluglärm Betroffenen“.

Abb.: Abstimmungsverhalten zum Volksentscheid (grün = Ablehnung der Flughafenschließung, rot = Befürwortung der Beibehaltung des geltenden Planfeststellungsbeschlusses) in Verbindung mit den realen An- und Abflugschneisen, d.h. der tatsächlichen Fluglärmbetroffenheit. In den Bezirken Pankow, Friedrichshain-Kreuzberg und Lichtenberg folgte die Mehrheit der Wähler der Empfehlung des Senats, Tegel aufzugeben und die freiwerdende Fläche zukünftig für Gewerbe und Wohnen zu nutzen. Bezeichnend – jedoch nicht unerwartet – ist der hohe räumliche Deckungsgrad von Fluglärmbelastung und Ablehnung der Petition zum Flughafenfortbetrieb. Eine interaktive Darstellung der einzelnen Abstimmungsergebnisse liefert die Berliner Morgenpost

Einen besonders faden Geschmack bekommt das Gezerre um die Zukunft des Verkehrsflughafens in Berlin-Tegel durch die maßlose Einmischung eines der größten Nutznießer einer möglichen Fortführung des Flughafenbetriebs. Die taz vom 27.09.17 deckt auf, dass der Dumpingflieger Ryanair ein Gefälligkeitsgutachten erstellen ließ, welches mit völlig unrealistischen Annahmen zum möglichen Wachstum des Flugverkehrs operiert. Dieses wurde dann fröhlich von FDP und AfD herumgereicht. Dazu kam die Posse um die Aufstellung von über 100 Großplakaten, die durch Ryanair gesponsert wurden. Bände spricht auch, dass die FdP Initiative die Plakatspende durch Ryanair erst nach zweimaligem Anmahnen durch die Landesabstimmungsleiterin und dies auch erst wenige Tage vor der Abstimmung entsprechend deklariert hat …

Der Spiegel vom 25.09.17 stellt klar, welche Chancen der Stadtentwicklung mit einem etwaigen Weiterbetrieb des Verkehrsflughafens in Berlin-Tegel verloren gehen. Verhindert werden würde die angestrebte Weiterentwicklung des ca. fünf Quadratkilometer großen Areals. Angedacht war das größte Wirtschafts- und Stadtentwicklungsvorhaben der nächsten Jahrzehnte für Berlin: (1) Der Umzug der Beuth Hochschule, die derzeit aus allen Nähten platzt, (2) die Ansiedlung von Gewerbe, Forschungseinrichtungen und Gründerzentren und (3) der Bau von Tausenden Wohnungen, die angesichts des chronischen Mangels an Wohnraum in Berlin dringend benötigt werden.

Aber auch der Dämpfer für die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung der Stadt dürfte nicht zu verachten sein. Ökonomen der landeseigenen Investitionsbank Berlin hatten die Zukunftschancen für die Stadt durch die Neunutzung des Flughafengeländes im Laufe der nächsten 20 Jahre auf rund 24.000 Arbeitsplätze hochgerechnet. Hinzu kämen weitere 34.000 in anderen Stadtquartieren. Die zusätzlichen Steuereinnahmen veranschlagen sie mit 780 Millionen Euro.

Abb.: Gegenüberstellung der Anzahl an Flugbewegungen sowie der (offiziellen) Anzahl an Fluglärmbetroffenen am Tag und in der Nacht an ausgewählten Deutschen Luftverkehrsstandorten. Der innerstädtisch gelegene Verkehrsflughafen „Otto Lilienthal“ in Berlin-Tegel weist die mit weitem Abstand schlechteste Bilanz hinsichtlich der wichtigen Belastungskennzahl „Flugbewegungen je Fluglärmbetroffener“ auf. Kein anderer Flughafenbetrieb erzeugt absolut und relativ so viel Leid in der Bevölkerung

Am Vergleich der Anzahl an Flugbewegungen pro Jahr zur Anzahl an Fluglärmbetroffenen an den Flughafenstandorten in Berlin-Tegel und München wird deutlich, worum es bei Flughafenneuplanungen auch im Sinne der EG-Umgebungslärmrichtlinie (2002/49/EG) gehen muss: Die drastische Reduzierung der Anzahl Fluglärmbetroffener sowie des individuellen Ausmaßes der einzelnen Betroffenheit. Während in München (moderner Flughafenstandort) auf 35,4 Flugbewegungen offiziell eine Fluglärmbetroffenheit kommt, sind es in Berlin-Tegel (veralteter Flughafenstandort) nur 0,7 Flugbewegungen!

 

Fazit:

Wenn wenige Menschen über das Schicksal von vielen Menschen entscheiden, dann ist das Demokratie. Ja, richtig gelesen, genauer bezeichnet man diese Staatsform als: repräsentative Demokratie, darauf weist die Zeit am 23.09.17 im Zusammenhang mit dem durch die Berliner FDP initiierten Volksentscheid zur Schließung / zum Weiterbetrieb des innerstädtisch gelegenen Verkehrsflughafens in Berlin-Tegel (TXL) eindringlich hin. In einer repräsentativen Demokratie werden politische Entscheidungen im Gegensatz zur direkten Demokratie nicht unmittelbar durch das Volk selbst, sondern durch Abgeordnete getroffen. Die Volksvertreter werden gewählt, erhalten somit ein Mandat.

In einer repräsentativen Demokratie treffen (vergleichsweise) wenige Menschen die Entscheidungen für viele. Dies tun sie, indem sie die einzelnen Argumente, das Für und Wider, miteinander abwägen. Selbst wenn Politiker (w/m) meinen, in einer Entscheidung ihren lokalen Wahlkreisen und politischen Ideologien verpflichtet zu sein, spielen persönliche Vorteile im Normalfall nicht die erste Rolle. Ihre Entscheidungen haben sich am größtmöglichen Allgemeinwohl zu orientieren. Zumeist finden sich daher bei politischen Entscheidungen Kompromisse, die für einen hinreichenden Interessensausgleich sorgen. So sollte es jedenfalls sein.

In Berlin soll eine politisch und rechtlich verbindliche Entscheidung – sprichwörtlich über die Köpfe der Betroffenen hinweg – mittels Volksentscheid ausgehebelt werden. Besonders problematisch dabei ist, dass bei einer solchen „Volksentscheidung“ eben keine übergeordnete inhaltliche und formale Abwägung mit Interessensausgleich vorgenommen, sondern das Kreuz zumeist rein nach Individualbelangen gesetzt wird. Das an oberster Stelle stehende tragende Argument der vom Fluglärm betroffenen Bürgerinnen und Bürger, der Gesundheitsschutz (d.h. das Grundrecht auf körperliche und seelische Unversehrtheit), betrifft zahlenmäßig nur eine vergleichsweise kleine Teilmenge der Abstimmungsberechtigten.

In der Minderheit finden sich im vorliegenden Konfliktfall annähernd 300.000 Menschen, die unter den ca. 500 Flugbewegungen am Tag / in der Nacht zu leiden haben. Auf der anderen Seite stehen rund 2.500.000 Wahlberechtigte, von denen die meisten TXL nutzen, die die gravierenden Nachteile des Flughafenbetriebes jedoch nicht am eigenen Leib erfahren müssen. Beim Volksentscheid werden persönliche Güterabwägungen getroffen. Schadet oder nützt mir das Ziel der Befragung? Soll so eine Gesellschaft funktionieren?

 

Ausblick:

Wie wird es in Sachen Umsetzung der „Volksentscheidung“ weitergehen? Die Stuttgarter Nachrichten vom 28.09.17 verweisen darauf, dass der Volksentscheid Berlin als gespaltene Stadt hinterlässt. In dieser Situation will der Berliner Senat aus den Erfahrungen Stuttgarts mit S21 lernen: Im Abgeordnetenhaus kündigte der Regierende Bürgermeister, Michael Müller, am Donnerstag einen Runden Tisch nach Stuttgarter Vorbild an. Eine „anerkannte neutrale Persönlichkeit“ solle mit einer Art Kommission transparent und ergebnisoffen prüfen, ob und wenn ja, wie man Tegel rechtssicher am Netz lassen und weiterbetreiben könne. Dies ist Teil eines Fünf-Punkte-Plans, den Müller vorlegte um dem Votum nachzukommen.

Die politische Opposition versucht derweil maximal Nutzen aus dem Abstimmungsverhältnis zu ziehen – ungeachtet der inhaltlichen Voraussetzungen und rechtlichen Rahmen. Die Berliner Zeitung vom 28.09.17 fasst den Streit zusammen: „Der CDU-Fraktionschef Florian Graf sagte in der hitzig und kontrovers geführten Debatte, das Ja-Votum von fast einer Million Bürger sei ein maximales Misstrauensvotum für Müller persönlich. Sein AfD-Amtskollege Georg Pazderski erklärte in kriegerischer Wortwahl, auch die Mobilisierung eines Volkssturms der Argumente (!) für die Tegel-Schließung habe keinen Erfolg gehabt. Eine Million Berliner stehen nun an der Seite der AfD. Auch der FDP-Fraktionschef Sebastian Czaja, einer der Köpfe des Volksbegehrens, nannte die Pro-Tegel-Initiatoren eine große Bürgerbewegung„.

Darauf erwiderte Berlins regierender Bürgermeister, Michael Müller, dass ein Weiterbetrieb rechtlich schwierig bis unmöglich und darüber hinaus die Offenhaltung schlecht für die Entwicklung der Stadt ist. Mit den Anteilseignern der Flughafenbetreibergesellschaft (Ländervertretungen von Berlin und Brandenburg sowie dem Bund) müsse über die Frage eines etwaigen Weiterbetriebs geredet werden. Auch müsse die Landesplanung angepasst werden. Dies ist seriös aber nur mit dem Land Brandenburg gemeinsam möglich. Eine einseitige, fristlose Kündigung der entsprechenden Verträge sei nicht möglich. „Nichts an dieser Stelle wird schnell gehen, nichts kann einseitig entschieden werden“.

Fortsetzung folgt …

 

P.S. als Hamburgensie: Suche „Berlin-Tegel (TXL)“, ersetze durch „Hamburg-Fuhlsbüttel (HAM)